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Media 24 Jan 2013

Article in Die Zeit

Im Dorf des Vergessens

Im niederländischen De Hogeweyk genießen Menschen mit Demenz maximale Freiheit. Nun wird ein solches Projekt auch in Deutschland geplant.

Ruth weiß schon lange nicht mehr, in welcher Welt sie lebt, aber sie weiß genau, was sie will: ihrem Besucher einen Kuss geben – auch wenn es sich bei diesem um einen wildfremden Journalisten handelt. Sie nimmt meine Hand, schaut mir tief in die Augen, zieht mich zu sich herunter und küsst mich fest auf die Wange. Dann schnappt sie sich ihren Gehstock und spaziert los, einem Ziel entgegen, das sie selbst nicht kennt. Ruth hat schwere Demenz. Aber hier, im niederländischen De Hogeweyk, darf sie sein, wie sie ist. Denn dieses Dorf ist ganz auf Menschen mit Demenz eingestellt. Seine 152 Bewohner leiden allesamt unter der Alterssenilität – und können doch tun, wonach ihnen der Sinn steht. Wer etwa, wie Ruth, nachmittags lieber im Morgenmantel spazieren geht, statt Tee zu trinken, darf dies.

Denn verlaufen kann sie sich nicht. De Hogeweyk ist so verschachtelt gebaut, dass sie immer wieder an ihrem Ausgangspunkt landet. »Menschen mit schwerer Demenz verstehen die Welt da draußen nicht mehr. Wir schaffen ihnen eine Welt, die sie verstehen: einen normalen Alltag in einem normalen Haus«, sagt die Managerin Yvonne van Amerongen, die das weltweit einmalige Projekt vor rund 20 Jahren aus der Taufe hob. Heute ist das Demenzdorf, das 20 Kilometer von Amsterdam entfernt im Städtchen Weesp liegt, zu einer Pilgerstätte für Pflegemanager, Wissenschaftler und Gesundheitspolitiker aus aller Welt geworden.

Nach dem Vorbild De Hogeweyks werden gerade in vielen Ländern ähnliche Einrichtungen geplant – auch in Deutschland. »Normalität« ist der Schlüsselbegriff dieses Konzepts. Auf den ersten Blick gleicht De Hogeweyk einem ganz normalen niederländischen Dorf. Es gibt einen Friseur, ein Restaurant und ein Café, einen Teich und eine Promenade zum Spazierengehen. Die 23 Wohnungen sind den Milieus nachempfunden, aus denen ihre Bewohner stammen, sie reichen von Oberschicht bis Arbeiterklasse, sieben verschiedene Lebensstile gibt es in De Hogeweyk. Wer in den einzelnen WGs wohnt, verraten die Namen, die in großen und bunten Buchstaben neben den Haustüren stehen. Die Kranken leben tagsüber mit Pflegern und Helfern zusammen. Diese tragen statt weißer Uniform Alltagskleidung. Unterscheiden kann man sie erst gegen Abend, wenn die Pflegekräfte beim Schichtwechsel nach Hause fahren. Man muss schon genau hinsehen, um die Brüche in der Illusion der Normalität zu bemerken: etwa die Tatsache, dass jede Wohnung zwei Eingangstüren hat – eine normale für den Alltag und eine versteckte, für Notfälle. Oder die Tatsache, dass das ganze Dorf nur einen zentralen Ein- und Ausgang hat, der Tag und Nacht kontrolliert wird.

Kritiker sprechen von einem »Ghetto«, in dem Demente isoliert und weggesperrt werden. Andere dagegen sehen Dörfer wie De Hogeweyk als Lösung eines immer drängender werdenden Problems. Jan Bennewitz plant im rheinland-pfälzischen Städtchen Alzey das erste deutsche Demenzdorf nach dem niederländischen Vorbild. Mitte 2014 sollen die ersten von 120 Bewohnern in die Wohnungen einziehen und »damit eine echte Alternative zum klassischen Pflegeheim haben«, wie Bennewitz sagt. Der für soziale Einrichtungen tätige Unternehmensberater ist mit seiner Partnerin Yvonne Georgi die treibende Kraft hinter dem Projekt Alzey. Das Wort »Demenzdorf« meidet Bennewitz; er redet lieber von einem »Quartier, in dem wirkliches soziales Leben stattfindet«. Ein Café soll die Alzeyer Bevölkerung dorthin locken, Arzt und Friseur sollen nicht nur für die dementen Anwohner da sein. Vermutlich werden bald noch andere Kommunen hierzulande ähnliche Pläne schmieden. Denn der Betreuungsnotstand in der Versorgung von Demenzpatienten ist unbestritten. Rund 1,3 Millionen Menschen leiden derzeit in Deutschland an Demenz. Für das Jahr 2050 rechnet das Berlin- Institut für Bevölkerung und Entwicklung mit 2,6 Millionen Demenzkranken. Viele Familien sind von der kräftezehrenden Aufgabe der Pflege überfordert, Pflegeheime stoßen schon heute an ihre Kapazitätsgrenzen. Oft fehlt ihnen das Knowhow im Umgang mit Dementen, obwohl diese einen immer größeren Teil ihrer Patienten ausmachen. Oder sie konkurrieren miteinander um cFachkräfte, die in der Not aus dem Ausland angeworben werden.

Zudem belastet die Betreuung die Sozial kassen und den Staatshaushalt, ein Pflegeheimplatz kostet mehrere Tausend Euro pro Monat. Für manche ist das ein einträgliches Geschäft. Denn in Deutschland sind Kranken- und Pflegekasse getrennt. Wird bei einem Patienten Pflegebedürftigkeit festgestellt, wechselt er von der Kranken- in die Pflegekasse. Für den Altersforscher Wolf Dieter Oswald ist das eine »unselige Trennung«. Sie führe dazu, dass nicht die Aktivierung von Menschen mit Demenz belohnt werde, sondern das Gegenteil: Je pflegebedürftiger ein Mensch sei, desto mehr Geld bringe er für die Heime. Und »dort herrscht oft Grabesruhe«, sagt Oswald, Professor am Institut für Psychogerontologie der Universität Erlangen-Nürnberg: »Die Leute werden mit  edikamenten sediert, möglichst im Bett gehalten. Denn dann gibt es die höchste Pflegestufe.« Stu dien zeigen, dass zwischen 26 und 42 Prozent der Kranken in irgendeiner Weise fixiert werden, fünf bis zehn Prozent werden sogar mit Gurten fest geschnallt.

Der ökonomische Druck auf die Pflegeheime, der Fachkräftemangel und das Aufbrechen traditioneller Familienstrukturen werden sich in Zukunft noch verschärfen. Ohne ein grundsätzliches Umdenken in der Gesellschaft wird der demografische Wandel ziemlich hässliche Seiten bekommen. »Jeder bekommt Alzheimer, wenn er nur alt genug wird«, sagt Wolf Dieter Oswald provokativ. Deshalb fordert er mehr Re habilitation, Prävention und Aktivierung: Auch im Pflegeheim sollten die Menschen gefördert und je nach Niveau gefordert werden. Dafür hat er ein Programm entworfen, das viele Punkte enthält, die auch im niederländischen De Hogeweyk umgesetzt werden. Dort herrscht an einem Nachmittag im Dezember rege Geschäftigkeit. Aus dem dorf eigenen Café dringt der Gesang von Kindern, dazwischen hört man die Stimmen einiger Bewohner. Gerade ist eine Kindergartengruppe zu Gast, die mit den Dementen die Ankunft von Sinterklaas, dem niederländischen Nikolaus, feiert. Nebenan in der lichtdurchfluteten Einkaufspassage wird mit Unterstützung von zwei Pflegehelfern an Adventsgestecken gewerkelt – eine von vielen Aktivitäten, die Bewohner wählen können, neben Singen oder Basteln und dem unvermeidlichen Bingo. Wichtig ist, dass die Dementen aktiv sind, auch im Alltag. Deshalb werden sie bei vielen Tätigkeiten einbezogen: Sie helfen beim Kartoffelschälen, Blumenbeetharken oder Tischdecken. Auch einkaufen gehen können die Bewohner. Im Dorfladen »Hogeweyk Super« gibt es Äpfel, Fertiglasagne und Duschlotion. »Alles ganz normal «, sagt die Managerin Yvonne van Amerongen. Ungewöhnlich ist höchstens, dass es niemand stört, wenn mit Knöpfen oder Taschentüchern bezahlt wird – alles ist erlaubt, solange es die Illusion
von Normalität auf recht erhält. Und was ist mit dem Eierlikör-Regal, das schon fast leer geräumt ist? Trinkt sich hier jemand heimlich einen Rausch an? Kein  schließlich jeden der 152 Bewohner.