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In de media 06 apr 2013

Article in Frankfurter Allgemeine

Das vergessende Dorf

Bei Amsterdam ist das Dementen-Wohnviertel „De Hogeweyk“ entstanden. In diesem Vorzeigeprojekt sollen die Kranken einen möglichst normalen Alltag erleben.

Jannette Spiering ist eine ungewöhnliche Pflegeheimleiterin. Eigentlich kommt sie aus dem Hotelfach – daher kommt es wohl, dass sie sich in so hohem Maße an den Wünschen ihrer „Kunden“ orientiert. Seit 30 Jahren arbeitet sie im Altenheim „De Hogeweyk“ in Weesp, einer Kleinstadt nahe Amsterdam. Dieses Heim ist ein Geheimtipp unter Fachleuten für Demenz. Aus ganz Europa wie aus Japan kommen Fachbesucher, um sich das Konzept anzuschauen und – zumindest in Teilen – nachzuahmen. Der vier Jahre alte Neubau im Stil einer Gartenstadt gewinnt nationale und internationale Preise für Pflegearchitektur. Die „Kundenzufriedenheit“, die in niederländischen Pflegeheimen alle zwei Jahre erfragt wird, liegt weit über dem Landesdurchschnitt. Wie gelingt das einem Heim, das auch nicht wesentlich mehr Geld zur Verfügung hat als andere?

“Wir gehen davon aus, dass nicht alle Menschen gleich sind“, sagt Jannette Spiering bei einem Spaziergang über das Gelände. „Das gilt auch für Demenzkranke. Sie haben ihre Lebensgeschichte, ihre Vorlieben, sind belesen oder weniger gebildet, waren Handwerker oder Professoren.“ In „De Hogeweyk“ versucht man, der Individualität der Bewohner gerecht zu werden. „Unsere Patienten sollen hier so leben können, wie sie es früher auch getan haben.“ Deshalb bemüht sich Jannette Spiering um eine möglichst normale Wohnumgebung, die wenig nach Heim aussieht: Sechs bis sieben Patienten leben in einer Hausgemeinschaft zusammen. Jedes „Haus“, das genaugenommen eine von 23 Wohnungen in dem verklinkerten Komplex ist, hat eine Außentür, die auf den „Boulevard“ führt, einen gepflasterten Fußweg in der Mitte des Geländes. Das Besondere ist, dass die Haustüren nicht verschlossen sind. Jeder Bewohner kann sich auf den Weg nach draußen machen, wann immer er will. Er wird bei schlechtem Wetter lediglich dran erinnert, eine Jacke anzuziehen oder einen Schirm mitzunehmen. Denn „De Hogeweyk“ ist ein Viertel für sich, ohne Autoverkehr, mit liebevoll angelegten kleinen Gärten und Plätzen. Es gibt keinen Zaun, und doch kann keiner der Demenzkranken weglaufen. Auf dem 15000 Quadratmeter großen Grundstück sind die Häuser so angeordnet, dass Teile ihrer Außenwände zugleich die äußere Grenze der ganzen Anlage darstellen. Es gibt einen bewachten Ein- und Ausgang, an dem eine freundliche Rezeptionistin dafür sorgt, dass Besucher hereinkommen, aber kein Bewohner allein das Gelände verlässt.

Keine Krankenhausatmosphäre

Ein älterer Mann im Jogginganzug hat sich gerade vor den gläsernen Automatiktüren verlaufen, die zum Theatersaal führen. Jannette Spiering spricht ihn an, erklärt ihm, wo er ist und bringt ihn wieder auf den Boulevard. Weil es draußen noch kalt ist, sind die bunten Gartenstühle, die auf dem Theaterplatz und um den Springbrunnen stehen, leer. Doch mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen wird dies ein einladender Ort.

„Wir wollten keine Krankenhausatmosphäre mehr“, sagt Jannette Spiering. „Bei allem, was wir hier tun, fragen wir uns: Würden wir das im normalen Leben auch machen? Wenn die Antwort ,nein’ lautet, verändern wir es.“ Deshalb wurde das alte Gebäude des Heims – ein vierstöckiger Plattenbau – in den Jahren 2007 und 2008 in zwei Etappen abgerissen und im laufenden Betrieb durch den Neubau ersetzt. Schon im Altbau hatte man mehrere Jahre experimentiert: Erst die Wohngruppen verkleinert, dann dezentrale Küchen eingebaut, in denen die Bewohner mit Hilfe selbst kochten. Doch die Architektur setzte der Innovationskraft der Hausleitung Grenzen. In der neuen Anlage ist es viel leichter, den dementen alten Leuten einen „normalen“ Alltag zu bieten und sie selbständig ihrer Wege gehen zu lassen. In „De Hogeweyk“ gibt es am „Boulevard“ einen Friseur, den die Bewohner besuchen können, ein Café, einen Reparaturdienst für Rollstühle und Rollatoren, einen Krankengymnasten und eine Hausarztpraxis. In das Restaurant gehen die Wohngruppen an manchen Wochentagen zum Mittagessen – nach Absprache mit den Angehörigen, denn das kostet etwas mehr als die Standardverpflegung. Für das Kochen in den Wohngruppen „kaufen“ die Bewohner die Zutaten im „Supermarkt“ von „De Hogeweyk“. Bestimmte Gemüsesorten bestellt man vor, alles andere ist vorhanden – sogar ein Feinkostregal mit indonesischen Spezialitäten. Dort bedienen sich vor allem jene Bewohner, die aus den früheren niederländischen Kolonien stammen. Auch Windeln, Putzmittel und Pflegeprodukte gibt es im Supermarkt. Statt zu bezahlen, buchen die Pflegekräfte ihren Einkauf auf eine Karte, der ihn der Wohngruppe zuordnet. „Früher hatten wir ein Lager, von dem aus die Materialien auf die Stationen gebracht wurden“, sagt Jannette Spiering. „Nun machen wir es anders herum: Die Patienten holen sich ab, was sie brauchen. Das ist nicht teurer, und es aktiviert sie: Man plant den Einkauf, zieht sich an, läuft einige Schritte, bekommt frische Luft, hat Abwechslung und soziale Kontakte. Solche Aufgaben gliedern den Tag.“ Wenn ein Bewohner etwas „einkauft“, das die Wohngruppe nicht benötigt, bringt es ein Pfleger diskret zurück.

Viele Ehrenamtliche

In einem Büro am „Boulevard“ können die Bewohner sich zu Ausflügen anmelden oder anmelden lassen; auch der Einsatz der mehr als 150 ehrenamtlichen Helfer wird dort organisiert. Für nachmittägliche Aktivitäten organisiert das Büro „Clubs“: So gibt es einen Künstlerclub, in dem gemeinsam gemalt wird, einen für klassische Musik, in dem man CDs oder echte Konzerte hört, ebenso einen für Volksmusik und Bingo. Der „Oranje-Club“ trifft sich, um mit Fähnchen, Hymne und orange gezuckertem Kuchen das Königshaus zu verehren. Man geht Wandern, Radfahren oder Schwimmen – so wie es die Kräfte der Senioren erlauben. Die Mitgliedschaft in einem Club gehört zum Standardpaket, weitere Mitgliedschaften kosten einen kleinen Aufpreis.

Zu den gemeinsamen Aktivitäten der Wohngruppen gehört es, den Haushalt zu führen. Jedes Haus hat eine Waschmaschine, die Wäsche wird absichtlich nicht in eine Großwäscherei gegeben. „Wäsche zu falten ist eine Tätigkeit, die viele Bewohner noch selbst erledigen können. Wir wollen ihnen das nicht abnehmen, denn jede sinnvolle Beschäftigung erhält die Lebenskraft“, sagt die Leiterin. Das Gleiche gilt für das Gemüseputzen oder für leichte Gartenarbeiten.

Gestaltete Gärten

In den Häusern gelangt man vom Eingangsbereich mit Gäste-WC in ein großzügiges, mit Parkett ausgelegtes Wohnzimmer, an das sich eine zumeist halboffene Küche anschließt. Vom Wohnzimmer geht ein weiterer Flur ab, der zu den sechs Schlafzimmern und zwei Bädern führt. Erst die Einzelzimmer mit Linoleumboden, Waschbecken und Pflegebett erinnern an ein Heim. Dass nicht jedes Zimmer ein eigenes Bad hat, ist eine pragmatische Entscheidung: „So viele Bäder zu bauen ist sehr teuer. Privatsphäre bei der Hygiene erreichen wir auch dadurch, dass wir die Tür des Badezimmers schließen“, sagt Jannette Spiering. Bei der Gestaltung der Außenanlagen wurde das Budget hingegen großzügig ausgenutzt: Jedes Haus hat eine Terrasse oder einen Balkon mit Sitzgruppe und Markise. Es gibt einen Innenhof mit kleinen Bäumchen, Kopfsteinpflaster und einem Outdoor-Schachspiel. Auf der anderen Seite des Geländes findet sich ein malerischer Garten mit Teich, Blumenrabatten, Bäumen und Büschen.

Von jeder Wohnung aus hat man den Blick auf eine Freifläche, die zu dem Lebensstil seiner Bewohner passt. Keine Wohnung ist wie die andere, denn in „De Hogeweyk“ gibt es sieben vordefinierte „Lebensstile“, nach denen die Wohnungen eingerichtet sind. Die Patienten werden bei ihrer Anmeldung einem der Lebensstile zugeordnet. Dafür füllen ihre engsten Angehörigen bei der Anmeldung ein Online-Formular mit 44 Fragen über ihre Gewohnheiten und Vorlieben aus. Die Marktforschungsagentur „Motivaction“ hat dieses Lebensstilmodell entwickelt. Niemand passt dabei nur in einen Stil, sondern es gibt Mischformen. „Aber am Ende finden wir immer den Stil, der zu jemandem am besten passt, und nur wenige Male haben wir jemanden in eine andere Wohngruppe versetzt, damit er sich wohl fühlte.“ Die Erkenntnis ist: Wenn ältere Menschen mit ähnlichen Interessen und Eigenschaften zusammenleben, gibt es weniger Streit. Wenn sie ihren alten Gewohnheiten folgen können, sind sie weniger ängstlich und verwirrt. Wenn sie ihren Bewegungsdrang ausleben können, bleiben sie länger körperlich fit. Die praktische Folge ist: Der Konsum an Medikamenten und Psychopharmaka sinkt.

Sieben Lebensstile

Im „handwerklichen“ Stil von „De Hogeweyk“ leben überwiegend Männer, es gibt deftiges Essen und vor dem Eingang des Hauses stehen ein Hasenstall und eine Werkbank, die auch benutzt wird. Man steht recht früh auf und isst zeitig zu Abend, gern mit einem Bier. Ähnlich (aber weiblicher) ist der „häusliche“ Lebensstil, mit gehäkelten Tischdeckchen, gemütlichen Ohrensesseln und gedrechselten Möbeln aus Eiche. Der „urbane“ Lebensstil ist darauf angelegt, gute Kontakte mit der Nachbarschaft zu pflegen: Hier öffnen sich die Haustüren auf einen kleinen Platz voller Bänke. Der „indonesische“ Lebensstil zeichnet sich dadurch aus, dass schon morgens Reis gekocht wird und die Wohnküche das Zentrum des Hauses ist. Zur Dekoration des Hauses gehören bunte Stoffe und exotische Pflanzen. Auch ist es hier zwei Grad wärmer, weil die Bewohner gern barfuß laufen. In den Wohnungen des „gehobenen“ Stils ist die Küche hinter einer halbhohen Trennwand verborgen. Die Pflegekräfte, die keine weißen Kittel tragen, werden trotzdem „Mädchen“ genannt, als seien sie Bedienstete. Es hängen Kronleuchter unter der Decke, man blickt auf gestreifte Seidentapeten, benutzt gestärkte weiße Tischdecken, geht häufiger essen, steht später auf. Am Nachmittag wird der High Tea serviert. Gegen einen Aufpreis bekommen die Bewohner täglich frische Blumen. Der „christliche Lebensstil“ ist dadurch gekennzeichnet, dass die Bewohner gemeinsam beten und geistliche Musik hören. Einmal in der Woche kommt ein Pastor, der im Theatersaal predigt – dazu sind alle Bewohner eingeladen. Der „kulturelle“ Lebensstil zeichnet sich aus durch moderne Kunst an den Wänden, Regale mit Büchern, ein Zeitungsabonnement und ein Glas Wein am Abend.

Die Einteilung in Lebensstilgruppen hat der Leitung von „De Hogeweyk“ den Vorwurf eingetragen, zwischen Arm und Reich zu trennen – doch der Aufenthalt ist für alle gleich teuer, von kleinen zubuchbaren Extras abgesehen. Die staatliche Sozialversicherung zahlt 5250 Euro im Monat für jeden Patienten, bei dem eine schwerwiegende Form der Demenz diagnostiziert wird – andere werden in „De Hogeweyk“ nicht aufgenommen. Die Erfahrungen mit dem „Lebensstil“-Konzept sind gut, und die Menschen leben sogar länger: Das durchschnittliche Alter beim Einzug in „De Hogeweyk“ liegt bei 83 Jahren. Nach durchschnittlich 3,4 Jahren (das ist ein halbes Jahr länger als in den meisten niederländischen Altenheimen), sterben die Patienten. Auch palliativmedizinische Versorgung ist möglich; den Umzug in ein Krankenhaus will man den alten Menschen ersparen.

Nachahmer aus Deutschland

“Die Herausforderung der kommenden Jahre ist, dass wir mehr demente alte Menschen haben werden, und dass ihre Lebensstile sich weiter individualisieren“, sagt Jannette Spiering. In Deutschland leben bereits heute etwa 1,3 Millionen Demenzkranke, und bis zum Jahr 2050 wird sich diese Zahl vermutlich verdoppelt haben. Kein Wunder, dass das Interesse an „De Hogeweyk“ groß ist. Im rheinland-pfälzischen Alzey hat sich bereits ein Investor ein kommunales Grundstück reserviert, um eine ähnliche Anlage zu errichten. Auch das Deutsche Rote Kreuz, Kreisverband Düsseldorf, hat Interesse. Selbst eine Delegation des Bundestages war bereist zu Gast in Weesp. In Deutschland ist durch das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz seit Januar 2013 die Förderung von Wohngruppen für Demenzkranke besser geworden. Mit Zuschüssen von etwa 2000 Euro pro Monat aus der Pflegeversicherung rechnen die Investoren in Alzey. Damit müssen sie allerdings auch die Baukosten finanzieren. In „De Hoogeweyk“ betrugen sie 19 Millionen Euro; 17 Millionen zahlte der Staat. Zwei Millionen Euro für die großzügigen Gemeinschaftseinrichtungen kamen durch Sponsoren zusammen.

Weil die beschauliche Parallelwelt von „De Hogeweyk“ so wenig nach Krankheit aussieht, könnte man meinen, dass die Angehörigen vielleicht häufiger zu Besuch kommen als in einem Pflegeheim alten Stils. Da winkt Jannette Spiering traurig ab: „Manche denken auch, dass sie sich nun weniger kümmern müssen, weil sie ihre Angehörige hier gut aufgehoben wissen.“ Um eine Brücke in die Vergangenheit zu schlagen, bittet sie alle Angehörigen um ein „Lebensbuch“ mit Fotos des Patienten und seiner Familie. Neuerdings können die Angehörigen auch die Lieblingsmusik des Bewohners auf einen iPod spielen. Aber nur weniger als die Hälfte der Angehörigen macht sich diese Mühe. Und sogar die Besuchshäufigkeit ist schichtspezifisch: Die einfachen Leute bekommen mehr Besuch als die in den „gehobenen“ Lebensstilen.