Be the care concept logo
In de media 28 mrt 2012

Article in Spiegel Panorama

Alles für den Augenblick

Jo Verhoeff ist 85 und dement. In den Niederlanden hat man ihr und anderen Erkrankten ein eigenes Dorf gebaut. Es ist eine Welt ohne Gestern und Morgen – mit größtmöglicher Freiheit. Und zugleich eine Antwort auf die Frage, wie die Gesellschaft mit Alten umgehen soll, die sich verhalten wie Kinder.

Der Moment, in dem sich die Welt als Scheinwelt entpuppt, kommt unverhofft. Jo Verhoeff geht voran mit forschem Schritt, “wenn Sie mir bitte folgen würden”. Sie ist eine stolze Frau, und das Wohnzimmer, das sie durchquert, ist ihr Reich. “Es ist schön, dass Sie gekommen sind”. Höflichkeit ist ihr wichtig. Der Weg führt durch den Flur, an den Wänden hängen Bilder von der letzten Silvesterparty, vorbei an der Haustür, die nie verschlossen ist, vor der noch immer der lachende Schneemann steht, einen halben Meter hoch, die Sonne scheint ihm auf den dicken Plastikbauch, es ist Frühling.

Jahreszeiten, Gepflogenheiten, Tagesabläufe, Geschichten, alles verschwimmt. Hogewey ist eine Welt zum Zusammenbasteln. Ein Dorf für Menschen, die sich ihrer Erfahrungen nicht mehr bedienen können, die sich nach Freiheit sehnen, aber kein Gefühl mehr haben für Sicherheit.
Wenn es etwas gibt, das diesen Ort besonders auszeichnet, dann ist es Gelassenheit. Bewohner gehen im Winter ohne Mantel vor die Tür und im Sommer dafür mit zweien, sie spüren den Regen auf der Haut und lassen den Schirm zu Hause, sie trinken Kaffee zum Einschlafen und essen Schokolade zum Frühstück, gehen schimpfend über die Straße und singend durch den Flur.

“Es ist schön, mal wieder Deutsch sprechen zu können”, sagt Jo Verhoeff nach einer langen Begrüßung.

“Es ist schön, dass Sie zu Besuch sind”, sagt sie. “Ich zeige Ihnen gerne die Einrichtung.”

“Wer sind Sie?”, fragt sie. “Sprechen Sie Deutsch?”

Jo Verhoeff ist eine fröhliche Frau, sie lächelt viel, sie bewegt sich gerne. Sie ist eine eitle Frau, die gewellten Haare, der Strickpullover, die Kette mit den Plastikperlen, sie werden zurechtgezuppelt bis sie sitzen. Die Hände haben immer Haltung, meist berühren sich nur die Spitzen der feingliedrigen Finger. Jo Verhoeff ist eine gebildete Frau, sie besuchte die höhere Schule, lernte Englisch, Französisch, Deutsch, Rechnungswesen. Sie ist eine ehrgeizige Frau, sie arbeitete in einer Bank, Geld, Ordnung, Übersicht, das alles bestimmte ihren Alltag.

Und sie ist eine vergessliche Frau.

Die Menschen, mit denen sie zusammenlebt, sind für sie Fremde

Es gibt Anleihen an das Leben der Vergangenheit, die Tapete ist grobgemustert, die Standuhr antik, über dem Esstisch hängen üppige Leuchter. In Hogewey ist die Zeit stehengeblieben, wie im Leben der Bewohner.

“Wann ich geboren bin?” Jo Verhoeff schaut an die Decke, lacht, “puuh”, sagt sie, als habe man ihr eine unflätige Frage gestellt. “Jahrgang 27, Tante Jo”, sagt Brenda Smart, die Krankenschwester. “Das ist eine lange Zeit”, sagt Tante Jo und nickt, als müsse sie es sich selbst bestätigen.

Drei Plätze weiter sitzt ein alter Herr, ein drahtiger Helmut Schmidt, das Haar grau und gescheitelt, Sakko, Krawatte. Vor ihm liegen Karten, er spielt Solitär. Seine Frau wird hereingeschoben im Rollstuhl, er kommt sie besuchen, jeden Tag. Er nimmt ihre Hand in seine, mit der anderen legt er weiter die Karten, sie reden kein Wort. Irgendwann fängt sie an zu schluchzen, die Tränen rinnen ihre Wangen hinunter. Die Demenz raubt die Hemmungen, sie setzt Gefühle frei. Wortlos spielt er weiter, wortlos weint sie weiter. So sitzen sie da, schick gemacht für das Ende des Lebens. Sie wird an diesem Nachmittag noch häufiger in Tränen ausbrechen, sprechen wird sie nicht.

Jo Verhoeff sitzt neben den Menschen, mit denen sie Wand an Wand schläft, mit denen sie die Dusche teilt und den Fernseher und das, was von ihrem Leben übrig ist, und sieht sie nicht. Auch in Gemeinschaft bleibt jeder für sich.

Corry Otter hat heute keinen guten Tag. Sie tigert durch die Wohnung, eine Frau, die das Alter gestaucht hat, die schwarze Stoffhose flattert um die dünnen Beine, die graue Strickjacke hängt schlaff am Bauch und spannt sich um den Rücken, krumm vom jahrzehntelangen Schrubben, Wienern, Wischen. Die Haare hat sie karamellfarben gefärbt, Hogewey hat auch einen Friseur.

“Ein schlechter Sommer wird das”, sagt sie und klammert sich an ihre Winterjacke, die sie zusammengeknuddelt an sich presst. “Ein schlechter Sommer.” Sie geht zum Fenster, legt den Kopf schief, als wäre sie fünf, zieht Grimassen, fletscht den letzten Zahn und schimpft eindringlich in Phantasiesprache. Murmeln, fluchen, das Wetter prophezeien, so geht es heute den ganzen Tag. Zurück im Flur nimmt sie eine neue Route, raus aus der Haustür, die Jacke vor den Bauch gepresst, Chaos im Kopf und Hausschuhe an den Füßen. In Hogewey geht das.

“Ich mache hier Urlaub, wissen Sie?”, sagt Jo Verhoeff und sitzt auf ihrem Bett, bezogen mit Ajax-Amsterdam-Wäsche, sie ist eine zufriedene Frau. An der Wand hängen gerahmt ihr Abschlusszeugnis von der höheren Schule, das Diplom der Ausbildung, Zertifikate, wie zum Beweis. “Wenn Sie das nächste Mal in Amsterdam sind, stelle ich Ihnen meine Eltern vor.”

Read full article